• von Rocco Burggraf

Es war irgendwann vor fünf Jahren, als ich gegen Mittag auf dem Dresdner Neumarkt stand. Vor mir ragte die Frauenkirche in den blauen Himmel. Ein Bauwerk, zu dem ich eigentlich eine pathetisch überhöhte Beziehung haben müsste, denn möglicherweise würde es ohne mein Zutun in den frühen Neunzigern da gar nicht stehen. Als ästhetische Erscheinungen sind mir barocke Kirchen dennoch einigermaßen fremd geblieben. In etwa so fremd wie barocke Frauen. Die Grazileren sind mir lieber. Das Besondere des Augenblicks bestand in der Tatsache, dass ich der einzige Mensch auf dem ansonsten überaus belebten Platz war. Der erste Corona-Lockdown war verkündet worden, und ich dachte beim einsamen Spazierengehen in meiner Stadt darüber nach, welche Folgen das vollkommen surreale Anhalten der Welt wohl haben würde. Ich dachte vor allem an ökonomische Verwerfungen, heute bin ich davon überzeugt, dass die gravierendsten Veränderungen in den Köpfen stattfanden.

Im Unterschied zu bisherigen Naturkatastrophen wie der Elbeflut, die 2002 noch ein nahezu heiteres solidarisches Miteinander bewirkt hatte, warf die Möglichkeit eines kollektiven Massensterbens jedes Individuum brutal auf sich zurück. In der kalten Winterluft lag etwas, das damals weder einen erkennbaren Ursprung noch ein erkennbares Ende hatte. Was in den Jahren danach folgte, ist bekannt. Familien fanden sich in vollkommen ungewohnten Situationen wieder. Soziale Beziehungen und wirtschaftliche Existenzen wurden vernichtet.

Gegliederter Tagesablauf der regelmäßig Arrestierten

Die anfänglich noch wortlos hingenommene Unterwerfung der Masse machte den latent frustrierten Amtsträgern, Technokratenseelen und Hobbyapokalyptikern schon bald Bock auf mehr. Die Ängste in der Bevölkerung wurden nicht mehr besänftigt, sondern planvoll sadistisch befeuert. Kinder, Schüler, Studenten wurden ihrer Kontakte, ihrer glücklichsten Jahre beraubt. Medien, Wissenschaft und Kunst erwiesen sich nicht als Refugien von Freiheit und bürgerlichen Rechten sondern als willfährige Instrumente einer wildgewordenen Durchgriffsnomenklatura. Die ausufernde Lust am Beherrschen oben atomisierte die Beherrschten unten.

Geimpfte trommelten bald zur Jagd auf Ungeimpfte. Ohne Mund-Nasen-Schutz irgendwo aufzutauchen geriet zum Spießrutenlauf. Selbst hinter heruntergelassenen Rollläden gefeierte Kindergeburtstage riefen Denunzianten auf den Plan. Einsatzkommandos lösten spontan organisierte Rave-Partys unter Dresdner Betonbrücken auf, von denen man damals noch glaubte, man könne sich dank ihrer Stabilität unter ihnen gefahrlos aufhalten. Der Tagesablauf der regelmäßig Arrestierten gliederte sich in Einschlusszeiten und knapp bemessene Hof- oder Versorgungsgänge. Termine im Impfzentrum und Zeitfenstertickets bei Zara wurden gehandelt wie Plätze im Rettungsboot der Titanic. Mit Hubschraubern wurden Spaziergänger auf Rodelhängen gejagt. Menschen fanden sich bei generös gewährten Freiluftkonzerten, aufgestallt wie Tönnies-Schlachtvieh in sägerauhen Holzgattern wieder.

Nichts ist mehr heil…

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