Meine Stellungnahme als Sachverständiger für Verfassungsrecht für die Sitzung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages am 13. März 2025, 16.30 Uhr:
1. Versammlung des aufgelösten Bundestages?
Die Frage, ob die Einberufung des – alten – Bundestages geraume Zeit nach der Wahl, aber vor dem Zusammentritt des neuen Bundestages verfassungsrechtlich zulässig wäre, wurde von der großen Mehrheit der Staatsrechtslehrer bislang bejaht. Zwar gibt es, soweit erkennbar keinen, der das Vorgehen der Vor-Koalition als im engeren Sinne legitim oder anständig bezeichnet, schon weil es eben eigentlich nicht um Eilbedürftigkeit geht, sondern um das Einlegen eines „Vetos“ gegen das Ergebnis der Bundestagswahl, durch das der kommende, aus Sicht der Mehrheit der vorher wie nachher Gewählten ungünstig zusammengesetzte neue Bundestag „überholt“ und vor vollendete Tatsachen gestellt werden soll.
Aber nach den Buchstaben des Grundgesetzes hält man es am Ende für möglich, eben weil Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG davon ausgeht, der alte Bundestag amtiere bis zum Zusammentritt des neuen Bundestags. Es soll nach dem Grundgesetz keine „parlamentslose Zeit“ geben.
Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den (möglicherweise ja eingeschränkten) Kompetenzen des alten Bundestages nach der Wahl eines neuen Bundestages gibt es nicht, nur einige Kommentarstellen, in denen etwa behauptet wird, der alte Bundestag habe bis zur Konstituierung des neuen „volle“ bzw. „unbeschränkte“ Rechte. Andere Literaturstellen sprechen von einer allgemeinen Pflicht des alten Bundestages zur politischen Zurückhaltung während des „Interregnums“, ohne diese Zurückhaltungspflicht näher zu präzisieren. Weiter wird darauf verwiesen, daß es diesen Fall schon einmal gegeben habe, und zwar bei der Erteilung eines besonders eilbedürftigen – und in Deutschland wegen der insofern besonderen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur „Parlamentsarmee“ eben erforderlichen – Bundestagsmandats zum Bundeswehreinsatz im Kosovo zwischen der Abwahl der Kohl-Regierung und der Konstituierung des 14. Deutschen Bundestags.
Doch zum vermeintlichen „Präzedenzfall“ ist gleich zu sagen: erstens handelte es sich damals eindeutig um einen Eilfall, und keineswegs ging es darum, mit dem alten Bundestag eine Mehrheit zu erlangen, die im neuen Bundestag nicht mehr gegeben wäre. In der Sache bestand völlige Einigkeit zwischen großen Mehrheiten im alten wie im neuen Bundestag. Damit wurde die Abstimmung zu einer Formalie. Zweitens hat über die Erledigung dieser Formalie niemals das Bundesverfassungsgericht entschieden. Aus dem Umstand, daß etwas schon einmal geschehen ist, folgt aber insofern jedenfalls nicht, daß es auch verfassungsrechtlich gerechtfertigt war.
Im übrigen verkennen auch diejenigen kritischen Staatsrechtslehrer, die das nun gewählte Vorgehen für legitimatorisch zweifelhaft, aber letztlich vom Wortlaut der Verfassung noch gedeckt ansehen u.U., daß die Lösung des Rechtsfalles eben nicht einfach aus Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG abgeleitet werden kann. Denn diese Vorschrift betrifft – unmittelbar – zunächst einmal nur den Regelfall, in dem nämlich die Legislaturperiode durch Zeitablauf zu Ende geht und deswegen ein neuer Bundestag gewählt werden mußte. Hier aber geht es nicht um diesen Regelfall, sondern um den Sonderfall, daß der 20. Bundestag nach dem negativen Ausgang der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers durch den Bundespräsidenten vorzeitig und explizit aufgelöst wurde. Dies geschieht in dem unmittelbar von Art. 39 GG geregelten Fall ja nicht. Und daher wird die angeblich entscheidende Vorschrift aus Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG hier schon in Gemäßheit des Auslegungsgrundsatzes lex specialis derogat legi generali (die speziellere Vorschrift verdrängt die allgemeine) von Art. 68 GG überlagert.
Es mithin schon mehr als zweifelhaft, ob sich ein seitens des Bundespräsidenten explizit aufgelöster Bundestag danach überhaupt noch versammeln darf (es sei denn allenfalls in Fällen, in denen eine unverzügliche Parlamentsentscheidung bereits durch das GG selber angeordnet wird, wie etwa in Art. 115a I 1 GG). Denn irgendeinen Sinn muß es haben und irgendeinen Unterschied muß es machen, daß in dem einen Fall der Bundestag explizit „aufgelöst“ wird, im anderen jedoch nicht, sondern einfach durch Zeitablauf endigt. Aus dem Umstand, daß sich z.B. zur Ausrufung des Verteidigungsfalles auch ein aufgelöster Bundestag wohl versammeln müßte, folgt noch nicht, daß auch ansonsten die Bundestagspräsidentin der Auflösungserklärung des Bundespräsidenten jederzeit „Gegenerklärungen“ entgegenstellen könnte, die die Auflösungserklärung in der Sache gegenstandslos werden lassen.
2. Alter oder neuer Bundestag?
Wenn Art. 39 III 3 3 GG von der Pflicht der BT-Präsidentin zur Einberufung des BT spricht, so ist damit – jedenfalls unter den hier obwaltenden Umständen, die die Vorschrift nicht (ausdrücklich) berücksichtigt – nicht entschieden, ob nun der alte oder der neue Bundestag einberufen werden muß.
Soweit erkennbar, ist sich die Kommentarliteratur darüber einig, daß die BT-Präsidentin zwar einberufen muß, aber nicht zu einem bestimmten Tag, also nicht etwa zu dem Tag, der durch die Antragsteller-Gruppe verlangt wird. Sie ist also durch nichts gehindert, zu entscheiden, den neuen Bundestag zum frühesten Zeitpunkt einzuberufen, zu dem dies faktisch möglich erscheint; spätestens also ab Feststellung des endgültigen Ergebnisses der BT-Wahl, nach a.A. auch schon früher (z.B. nach Konstituierung aller Fraktionen).
Entscheidend für die Frage „neu oder alt“ ist daher der Wortlaut des Art. 39 Abs. 2 GG, nach dem der neue Bundestag „spätestens“ – und nicht etwa „frühestens“! – am 30. Tag nach der Wahl konstituiert wird. Es gibt also mitnichten eine „Karenzzeit“ von 30 Tagen, innerhalb derer sich der neue Bundestag noch nicht versammeln darf, weswegen insofern der alte einzuberufen wäre. Ganz im Gegenteil: unter Legitimitätsgesichtspunkten wäre offensichtlich jedenfalls immer dann der neue Bundestag einzuberufen, wenn dies technisch möglich erscheint. Allenfalls, wenn es völlig unmöglich wäre, dürfte ersatzweise doch noch einmal der alte Bundestag zusammenkommen (abgesehen eben von der offenen Frage, ob sich ein explizit „aufgelöster“ Bundestag überhaupt noch versammeln darf).
Beantragen also die Abgeordneten eine Bundestagssitzung am 13. März, so wäre die Bundestagspräsidentin durch nichts gehindert, den Bundestag mit Rücksicht auf die bevorstehende Feststellung des endgültigen Ergebnisses der Bundestagswahl für den 15. März (Samstag) oder auch den 17. März (Montag) einzuberufen. Und dann eben – unter Legitimitätsgesichtspunkten – den neuen, nicht den alten.
Strittig ist übrigens weiter, ob auch die konstituierende Sitzung gemäß Art. 39 Abs. 3 GG von Abgeordneten beantragt werden könnte, oder ob diese nur eigeninitiativ von der (bisherigen) Bundestagspräsidentin anberaumt werden kann. Aber dies ändert praktisch nichts: der Termin zu Konstituierung des neuen Bundestages am 25. März ist nicht in Stein gemeißelt. Wird jetzt von den Abgeordneten eine vorgezogene Sitzung des Bundestages zwecks Beratung der neuen Verschuldungsvorhaben verlangt, dann muß notfalls der neue Bundestag eben erst konstituiert werden – und dann findet die beantragte Sitzung statt.
Die Beobachtung, daß der Termin zur Konstituierung von Anfang an – und eigentlich scheinbar ohne Not – die 30-Tages-Frist voll ausschöpft, hat übrigens nach dem Bekanntwerden der Pläne der Vor-Koalition zur Reaktivierung des „alten“ Bundestages zum Zwecke einer grundlegenden Änderung des Grundgesetzes zu dem Verdacht geführt, daß ein entsprechendes Manöver – „den kommenden Bundestag überholen, ohne ihn einzuholen“ – hinter den Kulissen schon früh und lange vor der Szene im „Oval Office“, die zur Begründung einer grundsätzlichen Lageveränderung angeführt wird, geplant worden ist.
Es spricht nach alledem eigentlich alles für die Einberufung des neuen und nichts für die geplante Einberufung des alten Bundestages.
3. Jedenfalls: kein „Wahlrecht“, kein „Ermessen“, schon gar keine „politische Opportunität“
Udo Di Fabio hat am 7. März im Hinblick auf die Problematik in einem Interview in „Deutschlandfunk“,
positiv-affirmierend (!) den Begriff „Wahlrecht“ gebraucht. Diesen hatte ich selbst einige Tage zuvor auf Twitter/X eingeführt, jedoch in polemischer Absicht, also im Sinne von „so kann es ja eindeutig nicht sein!“.
Udo Di Fabio behauptete hier nun ernsthaft: die BT-Präsidentin habe ein „Wahlrecht“, welchen Bundestag sie einberufen wolle (4:05), das nach „politischer Opportunität“ (3:40) ausgeübt werden könne und solle, ihr wachse („in Krisensituationen“) ein „Ermessen“ (u.a. 4:20) zu. Unklar blieb bei diesen Ausführungen bereits, nach wessen„politischer Opportunität“ das vermeintliche „Wahlrecht“ auszuüben sein solle. Soll dabei gar die Parteifarbe der Bundestagspräsidentin selbst eine entscheidende Rolle spielen?
Demgegenüber ist hier festzuhalten: Es gibt mit Sicherheit unter dem Grundgesetz kein „Wahlrecht“ der BT-Präsidentin zwischen zwei alternativ zu Verfügung stehenden „Bundestagen“ (mit jeweils unterschiedlicher Zusammensetzung!), bei dessen Ausübung ein „Ermessen“ zum Tragen kommen könnte, das dann gar nach „politischer Opportunität“ ausgeübt werden könnte. Es liegt ja schon auf den ersten Blick auf der Hand, daß diese nichts als die parlamentarische Variante des Brechtschen Satzes vom „sich ein neues Volk wählen“ wäre.
Existieren – jedenfalls scheinbar und auf den ersten Blick – zeitweise wirklich „zwei Bundestage“, die faktisch beide einberufen werden könnten, so daß es auf der Tatsachenebene wirklich eine „Wahl“ gibt, so folgt bereits aus dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes, daß es rechtlich eben keine Wahl geben kann, sondern daß dann die Frage, „welcher“ BT einzuberufen ist, ganz genau aus dem GG folgen muß und diese Entscheidung auch vollumfänglich vom BVerfG auf rechtliche Richtigkeit geprüft werden kann und muß in dem Sinne, daß es keinerlei „Ermessen“ der BT-Präsidentin gibt und schon gar kein Raum für „politische Opportunität“.
Die Entscheidung, „welcher BT“ rein rechtlich und ohne Opportunitätsgesichtspunkte einzuberufen ist, richtet sich dann nach dem unter 2) dargestellten Grundsätzen.
4. „Heilmann“ bzw. „Parteienfinanzierungs“-Problematik
Es drängt sich außerdem auf, daß die Beratungs-, Erkenntnis- und Überlegungszeit für jeden einzelnen beteiligten Bundestagsabgeordneten durch das überraschend aufgenommene und überstürzt durchgeführte verfassungsändernde Gesetzgebungsverfahren viel zu kurz ist.
Dabei geht es jedoch anders als im seinerzeitigen Heilmann-Organstreitverfahren (BVerfGE 2 BvE 4/23) nicht um die Kompliziertheit und Unverständlichkeit der Vorlage, sondern darum, daß die Natur des Gesetzgebungsanliegens durchaus auch in kurzer Zeit von den Abgeordneten vollständig erfaßt und begriffen werden kann, diesem Begreifen jedoch im allgemeinen keineswegs eine unmittelbare und zeitnahe abschließende Meinungsbildung folgen kann. (Eigentlicher Referenzfall ist daher weniger die Heilmann-Entscheidung, sondern das Verfahren zu Änderung der Parteienfinanzierung innerhalb weniger Tage im Sommer 2018, BVerfGE 2 BvQ 91/18).
Durch die Verfassungsänderung soll künftigen Parlamenten die Befugnis zur Verschuldung des Staatswesens in bislang ungeahnter Höhe zu bestimmten Zwecken ermöglicht werden. Da Möglichkeiten zur Verschuldung aller Lebenserfahrung nach früher oder später auch genutzt und ausgeschöpft werden – genau deshalb wurde ja seinerzeit die „Schuldenbremse“ eingeführt – muß sich jeder Abgeordnete als Vertreter des gesamten Volkes (Art. 38 GG) die Frage stellen, ob er an dieser Ermöglichung mitwirken will.
Diese Überlegung zeigt zugleich, daß die im Hinblick auf die materielle Rechtsmäßigkeit der Verfassungsänderung (im Hinblick auf Art. 79 III, 20 GG) vorgetragene Überlegung „Künftigen Bundestagen wird nur eine neue Möglichkeit geschaffen, die sie nicht nutzen müssen, ihre Haushaltshoheit wird weder rechtlich gebunden noch faktisch blockiert!“ wenig stichhaltig ist. Künftige Bundestage werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit früher oder später alle Verschuldungsmöglichkeiten ausnutzen und ausschöpfen; heutige Abgeordnete müssen sich die Gewissensfrage vorlegen, ob sie daran mitwirken wollen.
Hierbei handelt es sich nun um eine echte Gewissensfrage, die anders als andere mögliche oder typische Gewissensfragen (z.B.: Verweigerung des Wehrdienstes, Mitwirkung an einem Todesurteil) jedoch nicht spontan beantwortet werden kann, sondern umfangreiche Studien auf dem Gebiet der Volkswirtschaftslehre und der Finanzwissenschaft voraussetzt. Es gibt bekanntlich berühmte und vielfach preisgekrönte Ökonomen, die letztlich sagen, es könne eigentlich gar nicht genug Staatsschulden geben, wenn einer Geld investieren wolle, müsse ein anderer sich dieses Geld eben auch ausleihen wollen, und alle Einwände gegen noch so hohe Staatsverschuldung beruhten auf der unkundigen Übertragung von im Hinblick auf den Privathaushalt eines Bürgers klugerweise zu beachtender Grundsätze auf den Staatshaushalt. Andere, nicht weniger bedeutende Ökonomen werden nicht müde, vor den Risiken der Überschuldung zu warnen und darauf zu verweisen, daß die internationale Anerkennung des Euro und die Bonität des Euro-Raumes gegenwärtig nur noch auf der vergleichsweise soliden Haushaltsführung in der Bundesrepublik Deutschland beruht und mit deren Aufgabe insgesamt verloren wäre.
Und jeder einzelne Bundestagsabgeordnete – ober nun von Beruf Malermeister, Polizeibeamter oder Fachanwalt für Arbeitsrecht ist – hat nun von Verfassungs wegen die Pflicht, sich über diese Fragen, über die die bedeutensten Ökonomen der Welt zerstritten sind (Nobelpreisträger auf beiden Seiten) eine ganz eigene, auf persönlicher Erkenntnis nach eigener Bewertung der Argumente beruhende Auffassung zu bilden.
Es liegt auf der Hand, daß dies – wenigstens – etliche Wochen dauert, in denen wenigstens eine gewisse Chance besteht, entsprechende Lektüre und darauf aufbauende Diskussions- und Entscheidungsprozesse zu bewältigen.


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